Zeitreise-Bericht einer 11. Klasse des Beruflichen Schulzentrums Grimma vom 27. bis 30. April 2020 (online)
Wir schreiben das Jahr 2040
Im Zuge der Corona-Krise erfolgte im Jahr 2022 eine bisher nie dagewesene Wirtschaftskrise, die bis auf wenige Ausnahmen große Teile der Bevölkerung verarmen ließ. Die Menschen verloren das Vertrauen in die bestehenden Parteien und es herrschte ziemliches Chaos. So kam es zur Gründung der Partei FDZ (Freier Deutscher Zusammenhalt), deren Vertreter damit warben, wieder ein Gemeinschaftsgefühl unter der Bevölkerung schaffen zu wollen. An deren Spitze stellte sich Leon Connor, der aus sehr armen Verhältnissen stammt und nun, im Jahre 2040, seit fünf Jahren Bundespräsident ist.
Die Wirtschaft hat sich nach langen Jahren der Unsicherheit stabilisiert, allerdings auf einem viel niedrigeren Niveau als vor der Corona-Krise. Als arm gilt, wer weniger als 12€ in der Woche zur Verfügung hat. Es existiert eine kleine Mittelschicht, die durchschnittlich über zwischen 13€ und 40€ in der Woche verfügen kann. Zu den Reichen zählen Menschen, die mehr als 40€ in der Woche ausgeben können.
Mit Amtsantritt setzte Leon Connor sein zentrales Wahlversprechen um: Er führte eine Unterstützungszahlung für die Armen ein, die allen Menschen ein würdiges Leben ermöglichen sollte. Außerdem gewährt er allen Menschen mit geringem Einkommen Zugang zu dem inzwischen allseits bekannten Spiel „Mein reiches Ich“. Darin treffen sich an einem festen Tag in der Woche Vertreter der armen Schicht, um in einer virtuellen Welt für eine gewisse Weile ein fiktives Leben in Saus und Braus zu führen. Dieses Spiel hat inzwischen die Volksdroge Alkohol von Platz 1 verdrängt.
In den wöchentlichen Online-Veranstaltungen wird außerdem jedes Mal unter Personen aus der ärmeren Schicht der „Aufsteiger der Woche“ ausgelost. Diese Person erhält ein staatliches Stipendium, das einen gesellschaftlichen Aufstieg in die Schicht der Vermögenden ermöglicht. Am Abend empfängt der Präsident persönlich den Aufsteiger, der in den Nachrichtensendungen gezeigt und allseits gefeiert wird. Diese „Helden“ werden als positive Beispiele präsentiert und dienen den Armen als Motivation. Ob diese „Aufsteiger“ jedoch wirklich existieren, weiß niemand so genau.
Eine Szene, die sich im Jahre 2040 zugetragen hat…
1. Akt: Die Tagesschau
Ansage: Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.
Nachrichtensprecherin: Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau! Mein Name ist Jasmin Arndt.
Der Bundespräsident gewinnt immer mehr an Beliebtheit, das zeigen die neuesten Umfragen. Über 90% der Bevölkerung geben an, dass sie über die derzeitige politische und wirtschaftliche Situation zufrieden bis glücklich seien. Jetzt zu den wöchentlichen Rangerhöhungen von „Mein reiches Ich“. Wir schalten nun zum Bundespräsidenten Leon Connor.
Der Bundespräsident: Guten Tag, meine Damen und Herren! Ich möchte mich zuerst beim Volk bedanken für den monatelangen Support, der unsere Politik trägt und den wir hoffentlich noch lange verdienen werden. (er lächelt gewinnend in die Kamera)
Nun kommen wir zu unserem Aufsteiger dieser Woche. Regie, Zettel bitte! (ihm wird ein Zettel gereicht) Dankeschön. Der Gewinner ist – (macht eine Kunstpause) Frau Hanna Baldrian. Wir werden versuchen, uns mit Frau Baldrian in Verbindung zu setzen, telefonisch oder per Video-Chat. (kurze technische Pause) Frau Baldrian?
Frau Baldrian (wird dazugeschaltet): Schönen guten Tag, Herr Connor.
Bundespräsident: Frau Baldrian, hallo. Wie Sie ja mitbekommen haben, haben Sie diese Woche gewonnen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Meine erste Frage: Wie geht es Ihnen damit?
Frau Baldrian (freudestrahlend): Ich fühle mich sehr erleichtert und glücklich mit dem Gewinn.
Bundespräsident: Das freut mich sehr zu hören, etwas anderes wäre auch ehrlich gesagt komisch gewesen. Wenn ich Sie fragen darf: Wie alt sind Sie?
Frau Baldrian: Ich bin 24 Jahre jung.
Bundespräsident: 24 Jahre? Da haben Sie ja noch einiges vor sich mit dem Geld. Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?
Frau Baldrian: Ich komme aus der schönen Stadt Grimma.
Bundespräsident: Grimma? Ja, das ist wirklich eine schöne Stadt! Was wollen Sie denn mit Ihrem neuen Reichtum machen, wenn ich fragen darf? Urlaub?
Frau Baldrian: Ich werde sehr viel für die Familie nutzen. Ich habe drei Kinder und wir haben uns vorgenommen, in eine bessere Gegend zu ziehen, mit Schulen in der Nähe, die in digitaler Hinsicht fortgeschrittener sind.
Bundespräsident: Das Digitale gibt es in Grimma wohl nicht so an den Schulen?
Frau Baldrian: Naja, die Situation ist eher mäßig. Wir haben im Umkreis Leipzig bessere Schulen gefunden und damit hätten meine Kinder dann eine bessere Chance auf gut bezahlte Jobs.
Bundespräsident (macht sich eine Notiz): Okay, dann danke ich Ihnen für die Info. Vielleicht kann ich da etwas in die Wege leiten, damit sich das im Laufe der Zeit verbessert. Aber wie stellen Sie sich jetzt Ihre Zukunft vor? Sie haben jetzt eine Menge gewonnen. Wollen Sie sich ein Haus kaufen, ihr Traumauto oder einen neuen Mann?
Frau Baldrian (lacht): Also meinen alten Mann würde ich sehr gern behalten. Wir haben vor, uns ein neues Haus anzuschaffen. Vielleicht mit einem extra Zimmer für ein weiteres Kind. Und wir haben auch einen Familienurlaub geplant, eine große Japanreise, weil wir uns alle sehr für das Land begeistern.
Bundespräsident: Das soll ja wirklich ein schönes Land sein, Japan. Da war ich selber bisher noch nicht, leider. Aber vielleicht trifft man sich ja mal dort.
Frau Baldrian: Genau, das wäre doch ein schöner Zufall!
Bundespräsident: Ja, das wäre schön. Dann machen wir ein Selfie zusammen. Gut, Frau Baldrian, mich freut es auf jeden Fall für Sie, und ich hoffe, Sie werden glücklich, erreichen Ihre Ziele und vielleicht sieht man sich bald in Japan.
Frau Baldrian: Ich bedanke mich für das Gespräch, schönen Tag Ihnen noch!
Bundespräsident: Das Gleiche, Tschüss!
Nachrichtensprecherin: Auch von mir einen herzlichen Glückwunsch an die Aufsteigerin der Woche. Die nächsten Nachrichten folgen um 22 Uhr. Ich verabschiede mich und wünsche Ihnen einen schönen Abend.
2. Akt: In der Plattenbausiedlung
Zwei Freundinnen aus der ärmeren Schicht schauen die Verlosung an und unterhalten sich traurig:
Maria Müller (seufzt laut): Oh wie schade! Das wäre wirklich schön gewesen, wenn wir es geschafft hätten. Aber wir hoffen weiter, dass wir beim nächsten Mal gewinnen.
Susi Schmidt (tröstet ihre Freundin): Ja, wirklich sehr schade, dass wir nicht gezogen wurden. Aber ich denke, bei der nächsten Ziehung sind wir auch dabei. Wir geben nicht auf und hoffen weiter auf das Beste. Jetzt ist aber erstmal Zeit für… (beide gleichzeitig:) Mein reiches Ich!
Maria Müller (begeistert): Dieses Mal werde ich einen Trip auf einer Yacht machen, das habe ich noch nie gemacht. Mit Champagner und Sonnenuntergang und schickem Diener und allem.
Susi Schmidt (lacht): Ja, das ist eine gute Idee. Vielleicht komme ich da einfach mal mit. Bis gleich auf der anderen Seite!
Beide setzen sich die VR-Brillen auf und versinken in ihrer virtuellen Traumwelt.
3. Akt: In der Villa
Währenddessen haben auch drei reiche Freundinnen die Übertragung mit der Auslosung der Aufsteigerin der Woche gesehen.
Amanda (genervt): Oh, was ist denn das schon wieder. Schon wieder so eine abgerissene Neureiche. Das kann doch nicht sein!
Britta (feilt sich die Fingernägel dabei): Ja, ich kann es auch nicht verstehen. Was wollen die eigentlich hier? Die haben nichts für die Gesellschaft getan. Ach, übrigens, weißt du was? Mein Diener hat heute einfach nicht gemacht, was ich ihm aufgetragen hatte. Weißt du, meine drei Hunde wollen auch mal Gassi gehen, und der denkt wohl, ich gehe?!
Amanda (mitfühlend): Ja, schlimm, so etwas. Ich habe echt Glück mit meinem Diener. Ich war gestern shoppen und er hat mich dahin chauffiert. Außerdem hat er meine ganzen Klamottentaschen getragen und hat auch das Bezahlen übernommen.
Britta (wendet sich an Freundin Nummer drei): Gina, was ist eigentlich mit dir? Du bist ja so still!?
Gina: Über was ihr euch so aufregt… Also ich habe gestern mit meinem Diener mal bei meinen drei Häusern nach dem Rechten gesehen und kann mich gar nicht beschweren. Warum regt ihr euch denn überhaupt so über die neue Gewinnerin auf? Denkt doch einfach an die Ansprache von der Frau Bundeskanzlerin letzte Woche. Sie meinte doch, dass wir keine Angst zu haben brauchen, weil die Armen doch eh nie reicher werden als wir Reichen. Selbst die Aufsteiger!
Amanda: Stimmt, da hast du recht.
Britta: Ja, vielleicht hast du recht. (blickt auf die Uhr) Also ich glaube, ich muss erstmal was essen.
Amanda: Richtig, wir warten jetzt schon Ewigkeiten darauf, dass meine Köche mit dem Abendessen fertig werden. (ruft aus dem Zimmer heraus) François, ist das Essen endlich fertig?