The Lively Siblings

Ein Zeitreise-Bericht einer 12. Klasse am Beruflichen Schulzentrum Delitzsch vom 18. bis 19. November 2021


Wir schreiben das Jahr 2040

Vieles Überraschende und auch Wunderbare ist inzwischen Realität. Die vor kurzem nach einer sehr medienwirksamen Wahlkampagne an die Regierung gekommene Partei heißt „The Lively Siblings“. Keiner weiß so recht weshalb. Man munkelt, dass die beiden Parteivorsitzenden Geschwister seien. Die Zeichen stehen jedenfalls auf Aufbruch.

Schon längere Zeit herrscht Vollbeschäftigung. Dank staatlicher Subventionen werden körperlich sehr anstrengende Tätigkeiten und auch geringqualifizierte Beschäftigte viel besser als früher bezahlt. Nicht bei allen ist die Arbeitsmoral sehr hoch, womöglich weil es strengere Kündigungsregeln gibt. Noch existieren große Einkommensunterschiede, jedoch gibt es außer den wenigen Superreichen eine große und solide Mittelschicht und kaum Menschen, die als arm gelten.

Der Staat erhebt von allen den gleichen Steuersatz, investiert die Einnahmen jedoch auf kurzen, unbürokratischen Wegen in sofort sichtbare und auch nachhaltige Projekte. Ein Schwerpunkt ist die medizinische Forschung. So können Krankheiten wie Krebs mittlerweile erfolgreich behandelt werden. Alle genießen die gleiche Gesundheitsversorgung. Die Schulbildung ist, nachdem sie Jahrzehnte vernachlässigt wurde, das Herzensthema der neuen Regierung. Sie verspricht, die bestehenden Gemeinschaftsschulen endlich ausreichend zu finanzieren und die allzu lang verschleppte Digitalisierung voranzutreiben.

Bei der Mobilität ist dagegen längst moderne Technik im Einsatz. Autonom fahrende Autos auch in privater Hand gehören zum alltäglichen Straßenbild. Jedoch hat man begonnen sich von Elektromotoren zu verabschieden, da sich die Akku-Technik als unwirtschaftlich und nicht sehr umweltfreundlich erwies. Stattdessen setzt man auf Verbrennungsmotoren für Wasserstoff, der von der neuen Regierung deutlich subventioniert wird, um Anreize für den Kauf eines Wasserstoffautos zu schaffen. Auch werden wieder verstärkt Alltags- und Hightech-Produkte im eigenen Land produziert. Und „Made in Germany“ ist erneut ein Qualitätsversprechen.

Nicht zuletzt unternimmt die aktuelle Regierung auch Veränderungen des Rechtssystems. Sofort wurden härtere Strafen für Vergewaltigungen und Kinderpornografie eingeführt und Möglichkeiten der politischen Partizipation der Bürger durch digitale Wahlen und Bürgerbefragungen geschaffen.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Zufriedenheit der Menschen allgemein hoch ist.



Eine Szene, die sich im Jahre 2040 zugetragen hat…

1. Akt: Die Tagesschau

 Handelnde Personen:  

  • Claus Eckert –   
    Nachrichtensprecher  
  • Kameramann  

Es ertönt der altbewährte Jingle der Tagesschau, die jedoch nicht mehr am Abend, sondern zur Mittagszeit ausgestrahlt wird.

Claus Eckert: Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Ich bin Claus Eckert und das sind die heutigen Themen: Die vor kurzem an die Regierung gewählte Partei „The Lively Siblings“ hat heute ihre Vorschläge zur Verbesserung der Situation unseres Land bekanntgegeben. Sie will unter anderem härtere Strafen für Vergewaltigungen und Kinderpornografie einführen. Des Weiteren plant sie, die Preise für Grundnahrungsmittel deutlich zu subventionieren und die Medizin stärker zu fördern. Außerdem soll die Bildung an Schulen verbessert werden, insbesondere durch eine beschleunigte Digitalisierung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kommen wir nun zum Wetter mit Franziska Ludowig. Einen schönen Tag noch und bleiben Sie glücklich!

Sofort, als Claus Eckert nicht mehr auf Sendung ist, beginnt er zu seufzen und seine Krawatte zu lösen.

Claus Eckert (lakonisch, ja ein bisschen grob zu seinem Kameramann): So, Feierabend, tschüss! (das Studio verlassend, zu sich selbst) Jetzt ab nach Hause!

Claus Eckert nimmt in seinem Auto, das vor dem Studio parkt, auf dem Rücksitz Platz und öffnet sein notorisches Feierabendbier.

Claus Eckert (wieder zu sich selbst): Prost! (zum Autopiloten) Hydrogeny, los, Kinder abholen!


2. Akt: Die Autofahrt

 Handelnde Personen:  

  • Claus Eckert  
  • Claudia-Sophie – erstes Kind  
  • Cem-Günter – zweites Kind  
  • Cai-Uwe – drittes Kind   
  • Zwei Tankstellenwärterinnen  
  • Anruferin  

Das Auto fährt mit bis zu 70 Stundenkilometern und einem leichten, fast immer gleichbleibenden Surren durch den Innenstadtverkehr zur Schule seiner Kinder. Alle drei gehen in dieselbe Gemeinschaftsschule – Cai-Uwe in die 3., Cem-Günter in die 7. und Claudia-Sophie in die 14. Klasse. Sie warten bereits vor dem Schultor.

Claus Eckert (sein Türfenster herunterfahrend): Hi Kinder!

Claudia-Sophie (mit den Geschwistern vorne einsteigend): Wèi Papa, wann lernst du endlich Chinesisch?

Claus Eckert (zum Autopiloten): Hydrogeny, nach Hause! (zu den Kindern) Na wie war’s in der Schule?

Cem-Günter: Wir haben eine neue Deutschlehrerin, die ist schon ziemlich alt. Frau Schönnagel heißt sie.

Claus Eckert: Mensch, die hatte ich damals auch schon! Wie lange ist die denn jetzt schon an der Schule?

Claudia-Sophie: Nun, jetzt sind doch die „Lively Siblings“ an der Macht. Und die wollen mehr Geld in die Schulen investieren und den Unterricht modernisieren. Aber wir haben immer noch Polyluxe. Ich glaube, das wird noch ’n bisschen dauern.

Claus Eckert (mit einer beschwichtigen Geste von der Rücksitzbank): Na ja, die machen das schon! (zum Autopiloten) Hydrogeny, meinen Lieblingssong!

Es spielt „I want It That Way“ von den Backstreet Boys aus dem Jahre 1999. Nicht nur der Vater, sondern auch die Kinder singen textsicher mit. Der Song ist noch nicht zu Ende, da meldet sich der Autopilot mit einem Alarmsignal.

Claus Eckert: Och, Kinners, wir müssen tanken!

Das Auto fährt selbständig an die nächste Tankstelle.

Claus Eckert: So, ihr könnt sitzen bleiben und weiter Musik hören! Ich geh mal tanken.

Er steigt aus, schließt einen magnetischen Tankstutzen an sein Auto an und geht in die Tankstelle zum Bezahlen. Die zwei Tankstellenwärterinnen an der Kasse trinken gerade einen Kaffee und rauchen eine völlig rauchfreie E-Zigarette. Augenscheinlich sind sie nicht mehr die Jüngsten

1. Tankstellenwärterin (genervt in Richtung des eintretenden Claus Eckerts): Oh nee, was is’n das für Einer?

2. Tankstellenwärterin: Jetzt kommt der genau in unserer Pause!

Claus Eckert (sein freundliches Nachrichtengesicht aufsetzend): Einen schönen guten Tag! Ich würde gern…

1. Tankstellenwärterin (ihn unterbrechend): Junger Mann, jetzt warten Sie erstmal!

Claus Eckert (immer noch um Höflichkeit bemüht): Na hören Sie mal!

2. Tankstellenwärterin (das Gesicht verziehend und langsam ihren Kaffee beiseite stellend): Immer mit der Ruhe!

1. Tankstellenwärterin (plötzlich mit großen Augen): Ach, sind Sie nicht der Nachrichtensprecher?!

2. Tankstellenwärterin (ebenfalls aus dem Häuschen): Ja Menschenskinder, Sie haben wir doch gerade vorhin bei unserem Päuschen erst gesehen!

Claus Eckert (erfreut): Ja wirklich?

1. Tankstellenwärterin (euphorisch): Ja die Nachrichten über die (mit schlechtem Englisch) „Lively Siblings“!

2. Tankstellenwärterin: Die haben wir gewählt!

Claus Eckert: Na super!

1. Tankstellenwärterin: Können wir ein Selfie mit Ihnen machen?

Claus Eckert kommt gar nicht zum Antworten, so schnell haben ihn beide Frauen umringt, um jede ein Selfie zu schießen und es sogleich auf Instagranny zu teilen.

1. Tankstellenwärterin: Danke!!!

2. Tankstellenwärterin: Nun, haben Sie Wasserstoff getankt?

Claus Eckert: Äh, ja! Der ist immer so günstig bei Ihnen.

2. Tankstellenwärterin: Welche Zapfsäule hatten Sie denn?

Claus Eckert: Die Drei!

2. Tankstellenwärterin: Das macht 5 Euro.

Claus Eckert (grinsend): Och, das ist ja fast ein Sonderangebot! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!

Beide Tankstellenwärterinnen (kichernd): Ja wir sehen uns!

Claus Eckert (gut gelaunt zurück im Auto): So, Kinder, da bin ich wieder! – Hydrogeny, los endlich ab nach Hause!

Claudia-Sophie (sich liebevoll zum Vater umdrehend): Papa, kannst du mich und Cem-Günter da vorne rauslassen? Wir wollen noch ins Kino!

Claus Eckert: Äh, natürlich!

Er lässt das Auto anhalten und steckt seinen beiden aussteigenden Kindern 50 Euro zu.

Claus Eckert: Tschüss, viel Spaß! So, Cai-Uwe, wir fahren weiter!

Cai-Uwe (ungeduldig): Wie lange dauert’s noch bis nach Hause?

Claus Eckert: Ach nicht mehr lange!

Cai-Uwe (ernst): Ich muss noch Hausaufgaben machen.

Claus Eckert: Wir sind schon am Krankenhaus vorbei… (Plötzlich klingelt sein Telefon.) Huch, wer ruft mich denn jetzt an? (Er nimmt ab.) Hallo?

Anruferin: Hallo, Herr Eckert, Sie müssten mal kurz im Krankenhaus vorbeikommen! Ihr Vater liegt seit heute Morgen bei uns auf Station 2.

Claus Eckert (besorgt): Mein Vater liegt im Krankenhaus? Ich bin sofort da. – Hydrogeny, zum Krankenhaus! Schnell! – Cai-Uwe, halt dich fest!

Das Auto wendet und fährt mit 100 Stundenkilometern, die auch bei privaten Notfällen erlaubt sind, unter Blaulicht zurück zum Krankenhaus.

Claus Eckert: So, Cai-Uwe, bleibst du im Auto sitzen? Ich geh ins Krankenhaus. Vielleicht kannst du ja deine Hausaufgaben jetzt machen?

Cai-Uwe (etwas missmutig): Ja!


3. Akt: Im Krankenhaus

 Handelnde Personen:

  • Claus Eckert  
  • Zwei Stationsschwestern  
  • Krankenschwester  
  • Frau Prof. Dr. Dr. med. Fleischer  
  • Herbert Eckert  

Claus Eckert stürmt ins Krankenhaus auf die Station 2.

Claus Eckert (hastig zu den beiden Stationsschwestern an der Rezeption): Ich will zu Herbert!

1. Stationsschwester (unfreundlich): Hallo erst mal!

Claus Eckert: Ja hallo! Zu Herbert…

2. Stationsschwester: Zu welchem Herbert? Wir haben hier mehrere.

Claus Eckert: Na mein Vater, Herbert Eckert! Schnell bitte!

1. Stationsschwester: Zimmer 207.

Claus Eckert (ungehalten): Na wo ist denn das?

1. Stationsschwester: Den Gang runter und dann rechts!

Claus Eckert (losrennend): Dankeschön!

2. Stationsschwester: Die Leute werden immer unfreundlicher.

1. Stationsschwester: Ja, geht gar nicht!

Claus Eckert prescht ohne anzuklopfen ins Zimmer 207, in dem eine Krankenschwester neben dem Bett das Vaters steht.

Claus Eckert: Äh, hallo! Was ist denn nun mit meinem Vater?

Krankenschwester: Ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben. Sie müssen auf die zuständige Ärztin warten.

Claus Eckert (aufbrausend): Ja wieso denn das? Wissen Sie nicht, wer ich bin? Claus Eck…

Frau Prof. Dr. Dr. med. Fleischer (nach einem kurzen Anklopfen eintretend und ihn unterbrechend): Guten Tag! Ja, jetzt ist mal gut!

Claus Eckert: Hallo, Frau, äh?

Herbert Eckert (mit etwas schwacher Stimme zu seinem Sohn): Claus, sei nicht so unhöflich! Das ist Frau Prof. Dr. Dr. med. Fleischer!

Frau Prof. (ans Krankenbett tretend): Guten Tag, Herr Eckert! Wie geht’s Ihnen denn inzwischen?

Claus Eckert (aufgebracht): Na schlecht! Mein Vater liegt im Krankenhaus.

Herbert Eckert: Junge, ich hab so zwei kleine Stiche im Bauch.

Frau Prof. (mit ruhiger Stimme): Ja Ihr Vater hat Krebs.

Claus Eckert: Was?

Frau Prof.: Keine Panik! Heutzutage ist Krebs heilbar. Wir haben Ihren Vater nach der Diagnose heute Morgen umgehend minimal-invasiv mit zwei Sonden operiert. Nun bekommt er noch einen mRNA-Cocktail und bleibt ein paar Tage unter Beobachtung.

Claus Eckert (der Ärztin beinahe um den Hals fallend): Oh zum Glück, mein Vater stirbt nicht!

Frau Prof. (verschmitzt wie ein kleines Mädchen schauend): Nein, alles wird super! (zum Patienten) Herr Eckert, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag! (zu Claus Eckert) Kommen Sie mit, Ihr Vater braucht Ruhe!

Claus Eckert: Äh, danke, Frau Doktor!

Noch nicht wieder ganz Herr seiner Sinne trottet Claus Eckert durch die Stationsgänge nach unten.

Claus Eckert: Jetzt will ich aber endlich, endlich Feierabend haben!

Im Eingangsbereich sieht er die Krankenhauskantine und hat für einen kurzen Moment den Impuls, auf ein Bierchen dort einzukehren. Doch dann fällt ihm wieder ein, dass ja sein Sohn Cai-Uwe im Auto auf ihn wartet.