Zeitreise-Bericht einer 10. Klasse des BIP Kreativitätsgymnasiums Leipzig vom 12. bis 13. Dezember 2019
Wir schreiben das Jahr 2040
In Deutschland herrscht eine scheinbar friedliche Demokratie. Regiert wird das Land von der FDD, deren Vertreter sich „Freie Demokraten Deutschlands“ nennen. Unter der Oberfläche zeigt der Staat sein wahres Gesicht: eine von Medien und Propaganda vertuschte Diktatur, eine Welt voller Ungerechtigkeit als Ergebnis eines entgrenzten Kapitalismus. Durch gleiche Steuern für alle ist das System des schnellen Mehrwerts auf seine extremste Stufe gehoben.
Städte teilen sich strikt in Ghettos und Luxusviertel. Während die Innenbezirke und die reichen Gegenden voller Leben und den neuesten Technologien geprägt sind, reihen sich um diese schöne, neue Welt völlig heruntergekommene Slums. Die abgehängte Bevölkerung ist von der wohlhabenden Schicht vollkommen abhängig. Über schlecht entlohnte und körperlich anstrengende Jobs im Niedriglohnsektor kann sich die untere Kaste der Bevölkerung gerade so über Wasser halten. Der Mindestlohn wurde ebenso wie sämtliche soziale Sicherungssysteme abgeschafft.
Von „Chancengleichheit“ kann keine Rede sein. Für den nicht privilegierten Teil der Bevölkerung ist der Hauptschulabschluss die einzige Möglichkeit, sich mit schlecht bezahlten Handwerks- oder Ausbildungsberufen eine „Zukunft“ zu sichern. Fortschritte im Gesundheitswesen werden medial „gehypt“, Misserfolge über raffinierte Propaganda schöngeredet. Auffällig ist, dass sich kaum Protest im Land regt. Jeder ist sich selbst der nächste. Wer sich gegen die FDD stellt, dem droht der Entzug der Arbeitserlaubnis. Diese Maßnahme hat sich als ein effektives politisches „Steuerungsinstrument“ bewährt, da es für die Betroffenen den gesellschaftlichen Ruin bedeutet.
Eine Szene, die sich im Jahre 2040 zugetragen hat…
1. Akt: Im Armenviertel
Zwei edel gekleidete Damen fahren mit der U-Bahn an der Grenze zum Armenviertel vorbei. Als sie aussteigen, sehen sie zwei arme Menschen: ein Mutter mit ihrem Kind, die Zeitungen verkaufen.
Frau von Ehrenreich (schaut erschrocken): Guck mal, wie die aussehen. Oh Gott, ich könnte mir nicht vorstellen, so zu leben.
Frau Boutique (etwas angewidert): Ja, ich auch nicht. Niemals.
Frau von Ehrenreich: Und diese Zeitungen, die kauft ja sowieso niemand.
Frau Boutique: Ach, mach dir keine Gedanken darüber. Wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät zu unserem Termin.
Die beiden gehen weiter und werfen noch ein paar flüchtige Blicke auf die andere Seite. Das bleibt den beiden Zeitungsverkäuferinnen jedoch nicht verborgen.
Lisa Müller: Mutti, warum wollen die denn keine Zeitung kaufen?
Rita Müller: Sie halten sich für etwas Besseres. Aber so ist es halt einfach. Wir müssen damit leben, mein Kind.
Lisa Müller: Aber warum?
Rita Müller: Sie geben uns Arbeit und wir sind von ihnen abhängig.
Lisa Müller macht große Augen, doch in dem Moment kommt ein Spaziergänger vorbei, den Rita Müller umgehend mit Hinweis auf ihre Zeitungen anspricht – abermals ohne Erfolg.
2. Akt: Sitzung des Gesundheitskabinetts
Die Bundeskanzlerin bittet zu einem Strategietreffen anlässlich eines anstehenden medizinischen Durchbruchs. Die wichtigsten Politikerinnen sollen nun über das weitere Vorgehen beraten.
Sitzungsleiterin: Herzlich willkommen zu unserer Sitzung anlässlich des neuen Krebsmedikaments. Guten Tag, Frau Bundespräsidentin, Frau Bundeskanzlerin, Frau Bundesministerin für Gesundheit und Frau Propagandaministerin – ähm, entschuldigen Sie, ich meinte Ministerin für Bürgeraufklärung.
Die Ministerin wirft ihr erst einen strengen Blick zu, um ihr dann doch zuzuzwinkern.
Gesundheitsministerin: Das Medikament „K-1“ ist fertiggestellt, die Experimente am Menschen konnten erfolgreich durchgeführt werden. Unsere heutige Aufgabe ist es zu überlegen, wie das Medikament an die Öffentlichkeit gebracht wird.
Bundeskanzlerin: Vor allem: Wie bringen wir es an die Armen?
Gesundheitsministerin: Dazu hätte ich einen Vorschlag: Um das Medikament auf den Markt zu bringen, setzen wir 585 € als Preis an – pro Dosis – und die Reichen-Krankenkassen bezahlen dies auch…
Ministerin für Bürgeraufklärung: … und um den Eindruck zu vermitteln, dass es für die Armen noch nicht zugänglich ist, würde ich als Propagandaministerin (schaut mit einem schelmischen Lächeln in die Runde) vorschlagen, mit Hilfe der Medien zu vermitteln, dass sich das Medikament zwar noch in der Testphase befindet, aber dass wir kurz vor einem Durchbruch stehen.
Bundespräsidentin (nickt zufrieden): Eine hervorragende Idee.
Sitzungsleiterin: Da die Sitzung jetzt abgeschlossen ist, gehen wir hinüber zum Dreh.
Fernsehsprecherin: Eilmeldung! An alle Wähler der FDD: Es gibt neue Fortschritte in der Entwicklung eines neuen Krebsmedikaments. Allerdings ist dieses derzeit nicht einsatzbereit, da die Forschung noch nicht komplett abgeschlossen ist. Unterstützen Sie die FDD weiterhin, damit wir bald zu einem medizinischen Durchbruch kommen. Ihre Gesundheit liegt uns am Herzen! Und jetzt geht es weiter mit dem Wetter.
Nachdem die Kameras ausgehen, schütteln sich die Politiker die Hände und bedanken sich für die erfolgreiche Zusammenarbeit.
3. Akt: In der Schule
Frau Marquardt: Herzlich willkommen, liebe Schüler, zum Gesellschaftskunde-Unterricht. Wir besprechen heute die Gesellschaftsordnung und auch die Rangordnung darin. Dazu möchte ich euch diese mithilfe einer Pyramide veranschaulichen. (zeichnet ein liegendes Dreieck an die Tafel und unterteilt dieses mittig) Das hier ist unsere Gesellschaft. Diese lässt sich einteilen in die Reichen (schreibt ein „R“ in die Spitze) und in die Anderen (schreibt ein „A“ in den unteren, größeren Teil). Diese Anderen, etwas ärmere Leute, arbeiten für uns. Und dafür geben wir ihnen Geld. Was ist eure Meinung dazu?
Emmy: Ich finde das gut so. Denn nur so können wir unsere Gesellschaft aufrecht erhalten.
Steffi: Ich habe letztens, als ich aus der U-Bahn ausstieg, zwei Menschen gesehen, die sahen aus… Ich weiß nicht, was sie da anhatten, aber es sah echt nicht gut aus.
Frau Marquardt: Bitte konzentriere dich auf den Unterricht. Hat noch jemand eine Meinung dazu?
Betretenes Schweigen im Klassenraum.
Frau Marquardt: Gut, ich möchte, dass für jeden von euch klar ist, dass nur dieses Gesellschaftssystem dafür verantwortlich ist, dass unsere Gesellschaft fortbestehen kann.
Die Schüler nicken und sind froh, dass das Pausenklingeln ertönt, und rennen erleichtert raus.